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Jedes Leben ist die Gesamtsumme seiner Augenblicke.
Duncan Idaho,
Bekenntnisse nicht nur eines Mentaten
Duncan schaute bei den Ghola-Kindern vorbei, während sie sich mit einem Rollenspiel die Zeit vertrieben. Sie waren jetzt alt genug, um unterschiedliche Charakterzüge an den Tag zu legen, um nicht nur miteinander, sondern auch mit den Mitgliedern der Besatzung zu interagieren. Sie wussten, in welcher Beziehung sie früher zueinander gestanden hatten, und versuchten, mit den Merkwürdigkeiten ihrer Existenz zurechtzukommen.
Jessica, die genetisch die Großmutter des kleinen Leto II. war, hatte eine enge Bindung zu ihm aufgebaut, auch wenn sie sich mehr wie seine große Schwester verhielt. Stilgar und Liet-Kynes standen sich wie gewohnt nahe; Yueh versuchte sich mit ihnen anzufreunden, doch er blieb der ewige Außenseiter, obwohl Garimi ihn sehr genau studierte. Thufir Hawat schien sich verändert zu haben, seit seinen Erlebnissen auf dem Planeten der Bändiger reifer geworden zu sein. Duncan rechnete damit, dass der junge Kriegermentat schon bald sehr nützlich für ihre Pläne sein würde. Paul und Chani waren praktisch unzertrennlich, dafür schien sie sich nicht mit Liet, ihrem »Vater«, anfreunden zu können.
So viele wiederbelebte Erinnerungen aus Duncans Vergangenheiten.
In ihrem letzten Bericht war die Proctor Superior zur Einschätzung gelangt, dass die Bene Gesserit nun mit der Erweckung ihres Gedächtnisses beginnen sollten. Zumindest einige der Ghola-Kinder waren dazu bereit. Duncan empfand ein zugleich besorgtes und vorfreudiges Kribbeln.
Als er sich zum Gehen wandte, sah er Sheeana im Korridor stehen. Sie beobachtete ihn mit einem rätselhaften Lächeln. Er verspürte unwillkürlich einen Schwall der Begierde, gefolgt vom Gefühl der Peinlichkeit. Sie hatte ihn gebunden, ihn gebrochen ... ihn gerettet. Aber er würde sich nicht von ihr gefangen nehmen lassen, wie es Murbella mit ihm getan hatte. Er musste sich zwingen, die Worte zu sagen, die er sagen wollte. »Es wäre besser, wenn wir beide auf Abstand bleiben. Zumindest vorläufig.«
»Wir befinden uns im selben Raumschiff, Duncan. Wir können uns nicht einfach verstecken.«
»Aber wir können vorsichtig sein.« Er spürte die Brandwunde der sexuellen Kauterisierung, die ihn von Murbella geheilt hatte, aber er wusste, dass sie notwendig gewesen war. Seine Schwäche hatte diese Maßnahme notwendig gemacht. Er wollte es nicht noch einmal geschehen lassen, aber Sheeana hatte die Macht, ihn zu umgarnen – wenn er es zuließ. »Liebe ist viel zu gefährlich, um damit zu spielen, Sheeana. Man sollte sie nicht als Werkzeug benutzen.«
* * *
Eine Sache gab es für ihn noch zu erledigen, und er konnte sie nicht länger vor sich herschieben. Meister Scytale hatte die Sachen von Murbella sorgfältig untersucht, nachdem Duncan sie einfach auf den Boden hatte fallen lassen, als der Alarm gegeben wurde. Duncan hatte sie zurückgefordert und sich dann taub gestellt, als der Tleilaxu-Meister erklärt hatte, dass die meisten Zellen viel zu alt waren, schon zu viel Zeit außerhalb des Nullentropie-Feldes verbracht hatten, aber die Möglichkeit brauchbarer DNS-Fragmente ...
Duncan hatte ihm das Wort abgeschnitten und war einfach mit der Kleidung davongegangen. Er hatte nichts mehr darüber hören wollen, hatte nichts von Möglichkeiten wissen wollen. Weil alle Möglichkeiten nur falsch sein konnten.
Er hatte sich damit zu täuschen versucht, dass er einfach nicht mehr über die Idee nachdachte. Sheeana hatte ihn von der Kette zu Murbella befreit ... aber es war immer noch eine große Versuchung! Er kam sich wie ein Alkoholiker vor, der eine leere Flasche anstarrte.
Genug. Duncan musste den letzten Schritt selbst unternehmen.
Er starrte auf die zerknitterten Gewänder, die anderen persönlichen Dinge, die losen bernsteinfarbenen Haarsträhnen. Als er alles zusammengerafft hatte, war es, als würde er sie in den Armen halten – zumindest ihre Essenz, ohne das Gewicht ihres Körpers. Sein Blick trübte sich.
Murbella hatte nicht viel von sich selbst zurückgelassen. Trotz der langen Zeit, die sie mit Duncan im Nicht-Schiff verbracht hatte, hatte sie nur wenige Dinge mit an Bord genommen. Für sie war es nie ein richtiges Zuhause gewesen.
Die Gefahr ausschalten. Die Versuchung ausschalten. Die Möglichkeit ausschalten. Nur dann konnte er endlich frei sein.
Konzentriert lief er durch die Korridore und näherte sich einer der kleinen Wartungsluftschleusen. Vor Jahren hatten sie auf diesem Weg die mumifizierten Überreste der Bene-Gesserit-Schwestern bei einer Bestattungszeremonie dem Weltraum anvertraut. Nun würde Duncan eine etwas andere Art der Bestattung vollziehen.
Er warf die Sachen in die Kammer der Luftschleuse und betrachtete die zerknüllten Überreste eines vergangenen Lebens. Es kam ihm so wenig vor, aber trotzdem hatte es große Bedeutung. Er trat zurück und legte die Hand an die Schalttafel.
Aus dem Augenwinkel bemerkte er, dass eine Haarsträhne an seinem Ärmel hing. Ein Haar von Murbella hatte sich von ihrer Kleidung gelöst, ein einzelnes bernsteinfarbenes Haar ... als wollte sie sich weiter an Duncan klammern.
Er zupfte das Haar mit den Fingerspitzen ab, sah es für einen langen, schmerzhaften Moment an und ließ es schließlich auf die anderen Sachen fallen. Er versiegelte die Tür der Luftschleuse, und bevor er weiter nachdenken konnte, aktivierte er den Ausschleusungsvorgang. Die Luft entwich ins Vakuum, und das Material wurde in den Weltraum hinausgesogen. Unwiederbringlich.
Er starrte in die Leere hinaus, wo er die Sachen schnell aus dem Blick verlor. Jetzt fühlte er sich erheblich erleichtert ... oder war es nur die Leere, die er in sich spürte?
Von nun an würde Duncan Idaho jeder Versuchung widerstehen, die sich ihm darbot. Er würde eigenständig handeln und keine Figur mehr sein, die von jemand anderem auf einem Spielbrett hin und her geschoben wurde.